Land in Sicht?

Land in Sicht, ruft der Kapitän mitten hinein in einen Morgen, der hinter uns klar und vor uns noch nebelverhangen scheint. Ich ahne die Sonne hinter den Wolken, aber ich kann sie nicht sehen. Noch nicht. Ich betrete das Deck und schaue geraden Blickes nach vorn, in die Richtung, in die wir eben in diesem Moment hineinsteuern. Land, denke ich Land? Ja vielleicht, möglich wäre es durchaus. Möglich wäre aber genauso eine Fata Morgana, die sich mit dem Näherkommen als eine weitere Illusion erweist.

 

Liebe Cafégäste, vor zwei Jahren fing alles an. Oder vor zwei Jahren endete alles. Das kann man jetzt betrachten, wie man es gerne betrachten möchte. Es ist eine Frage des Standpunktes, von dem aus ich in die Welt blicke. Oder auch darüber hinaus.

Das mit dem Darüberhinausblicken, über was auch immer, über den eigenen Horizont ist das, was in der jüngsten Vergangenheit zu kurz gekommen ist. Erheblich. Zumindest in meiner Betrachtung der Dinge.  

 

Ich habe seit längerem nichts mehr geschrieben, weil mir die Worte fehlten. Es hatte mir die Sprache verschlagen, mit jedem Tag, der verging, ein bisschen mehr, wenn ich das Treiben da draußen beobachtete, war persönlicher Rückzug die einzige Möglichkeit, die blieb. Die Welt um uns herum ist immer schon laut. Häufig ist sie mir zu laut. Das war auch schon so in den Jahren, bevor C… uns heimsuchte. In den zwei Jahren, die hinter uns liegen, ohne dass ich mir sicher bin, dass sie tatsächlich vorbei sind, war die Welt noch einmal um vieles lauter und darin nicht unbedingt schöner geworden. Lauter, als ich es am Ende, für mich der Herbst des Jahres 2021, überhaupt noch ertragen konnte. Damals schloss ich meine Tür zu. Von außen und für länger. 

Dazwischen ist vieles und nichts geschehen.

Im Herbst wähnte ich zur Misanthropin zu werden. Ich? Frei nach einem Zitat von Caspar David Friedrich lebte ich die vergangenen Monate nach dem letzten Satz, der dieses Zitat beschließt.

 

Doch um die Menschen nicht zu hassen,

Muß ich den Umgang unterlassen. (Caspar David Friedrich)

 

Der 20. März steht vor der Tür, also fast. Noch ein Monat und dann ist Frühlingsanfang und die Bundesregierung lässt einen Großteil der bisherigen Corona-Maßnahmen fallen. Hoffentlich fallen sie uns nicht auf die Füße, schon im nächsten Herbst. Sie wissen schon, die nächste Welle und so… (Der Bundesgesundheitsminister warnt…) Ich bin skeptisch. Das ist wahrscheinlich selbstredend, ohne längere Erklärungen dazu hinnehmbar, gerade als Gastgeberin, also in einer Branche, ach reden wir nicht mehr darüber…

Bereits am 4. März soll für die Gastronomie wieder die 3G-Regel gelten. (Man könnte fast schon glauben, wir erreichten damit Normalität. Ich denke, die neue Normalität, so wie Neoliberalismus und Neoklassik, nun auch die Neonormalität.) Und der kleine Racker, der uns die Suppe eingebrockt hat, feiert da schon beinahe sein Zweijähriges.

Nach einer Aussage von Karl Lauterbach, also genau gesagt nach der vom 28. Oktober 2021, die wie alle anderen auch mit Karl Lauterbach warnt… beginnen, bedeutet das demnach ab März für Menschen wie mich: geimpft, genesen – oder gestorben. Das Erste und Zweite werde ich nicht mehr schaffen, der Kalender zeigt noch exakt zehn Tage, was beide Varianten unwahrscheinlich erscheinen lässt. Ist das Panik verbreiten oder seriöse Bundespolitik? Ich weiß nicht, vielleicht habe ich ja zwischenzeitlich eine verzerrte Wahrnehmung. Ich sage noch mal kurz Neonormalität.

Also irgendwie bin ich damit gerade im Endspurt meines Seins und in Folge dessen wäre im Grunde jeglicher Wiedereröffnungsgedanke schon von sich aus hinfällig. Was ich hier schreibe, sind meine Gedanken und auch meine Wahrnehmung ist immer nur eine subjektive, niemals allgemeingültig. Jeder andere kann es, aus anderen Erlebnissen heraus, natürlich anders werten, einordnen, betrachten, empfinden. Ich schreibe das, was ich erlebt und gefühlt habe und das Ganze lediglich aus meiner Perspektive. Nicht mehr und nicht weniger. Ich möchte damit niemandem zu nahe treten, geschweige denn andere be- oder verurteilen. Jeder ist wie er nun mal ist. Wir schreiben, jeder für sich, unsere ganz eigenen Geschichten.

Ich schenke der deutschen Politik immer noch mein allergrößtes Vertrauen und gerade unseren apokalyptischen Gesundheitsminister habe ich ganz besonders fest in mein Herz geschlossen. Die panische Mimik in seinem Gesicht scheint wie nach einer missglückten Botox-Behandlung fixiert. Selbst stummgeschalten schreien einem die vier Reiter (Pest, Krieg, Teuerung und Tod) aus seinem ganzen Habitus auf ihren Kleppern entgegen.

 

Im November las ich einen Artikel im Spiegel, einen neutralen, eine Lebensgeschichte, nichts zum allgegenwärtigen Thema. Dann schlug ich den Spiegel zu, ohne zuvor die Titelseite gesehen zu haben. Ich lag im Bett und es war kurz vor Mitternacht. Auf dem Cover unübersehbar der siebente Buchstabe unseres Alphabets, in dreifacher Ausfertigung.

Dieses Mal erklärte die 4. Gewalt im Staate:

Geimpft – Genesen – Gefrustet

Wie die Politik und die Ungeimpften die Lage verbockt haben.

Ich habe meinen Medienkonsum stark reduziert. Den Spiegel lese ich seitdem nicht mehr. Hernach stellte sich mir die Frage, neutraler Bericht oder Verkaufszahlen? Jeder Verlag ist ja auch gleichzeitig ein Wirtschaftsunternehmen und das Geschäft mit der Angst und dem Erklären vermeintlicher Sündenböcke läuft nun mal eindeutig besser als eine klare, aber wertungsfreie Berichterstattung. Geht es am Ende immer nur um das Eine? In diesem Fall um das unter dem Strich. Wenn der Kuchen nun schon mal da ist, dann her mit dem fettesten Stück. Jeder will seinen Anteil. Ich wundere mich nicht über das bereitwillige Auffangen des Spielballes, den Politik und Medien in den letzten beiden Jahren abgeschossen haben. Abgeschossen sage ich ganz bewusst. Worte sind Waffen. Was es ausgelöst hat, sieht man seit vielen Monaten, in immer extremerer Form.

German Angst – ein Begriff, den die Welt kennt und den wir leben. Besonders in der zurückliegenden Zeit.

 

Was mir persönlich in dieser Zeit Angst gemacht hat, ist nicht das Virus, sterben werde ich sowieso irgendwann. Dabei handelt es sich um eine unumstößliche Tatsache, die auf reinster Biologie basierend unabänderlich ist. Ist nun mal so, Ende, aus und bis dahin kommt das Leben. Stand so auch im Adventkalender, letztes Weihnachten. Die Seite ist zu meinem Jahresmotto 2022 geworden und liegt (nur so, zum Nicht-Vergessen) aufgeschlagen vor mir auf dem Schreibtisch. Ich denke, die Schreiberin hatte dabei mit recht großer Wahrscheinlichkeit auch die jüngsten Ereignisse im Sinn.

 

Was mich in letztlich lähmenden Schrecken versetzte, war die Entwicklung meiner Mitmenschen. Und damit meine ich nicht etwa eine Strömung oder Richtung, sondern die groteske und furchterregende Ansammlung an Unbedarftheit, Scheinheiligkeit, Besserwisserei, Aggression, Egoismus im Mantel der Nächstenliebe (im Wortlaut der political correctness: Solidarität!). Jahrzehnte wähnte ich diese im Osten, hinter der gefallenen Mauer, zurückgelassen. Was auch ein bisschen traurig war, im Grunde und ehrlich gelebt, eine großartige Sache. Damals als wir noch solidarisch waren, mit den Leninpionieren der Sowjetunion im Rahmen der DSF (Deutsch-Sowjetische-Freundschaft) und wie Timur und sein Trupp, Handwagen, also wackelige Karren mit eisenbeschlagenen Holzrädern, voll beladen mit Bündeln von strickumwickelter Volkswacht und leeren Schnapsflaschen der Arbeiterklasse zum ortsansässigen Altstoffhandel zerrten. Damals waren wir (politisch verordnet) irgendwie solidarisch mit allem und jedem. Außer mit den Asozialen, die die sozialistische Gesellschaft schädigten, die Parasiten in ihrem Fell.

Haben wir heute alles wieder erleben dürfen, in anderer Ausformung und die Rollenverteilung war irgendwie kreativer. Die Asozialen sind auf einmal wieder en vogue in unserem Sprachgebrauch. Nur, dass sie heute eine ziemlich bunt gemischte Truppe darstellen. Ich gehöre da ganz klar dazu. …nach Einschätzung der Politik…

 

Was will ich eigentlich und im Grunde mit meinem Text sagen?

 

Heute Morgen ploppte eine Nachricht in meinem elektronischen Postkasten auf.

Eine hoffnungsvolle Anfrage zweier wirklich lieber Menschen, die mir über die Jahre so ein bisschen ans Herz gewachsen sind. Zwei Geburtstage im Februar und die Frage nach einer Feier im März.

Zitat: Am 20. März sollen alle großen Schutzmaßnahmen enden… und ich habe die Hoffnung, dass du diesen Tag zum Anlass nimmst und deine Pforten wieder öffnest.

 

Meine Freundin G. sagte ganz zu Beginn dieses politischen Desasters, damals als wir noch an ein Ende glaubten: Das macht was mit uns.

Ich sage heute ein klares Ja dazu. Es hat etwas mit uns gemacht. Mit mir auf jeden Fall und ich denke oder glaube zu wissen, dass ich damit nicht allein stehe.

 

Für mich ist dieser Tag kein Ziel, an dem eine gute Fee ihren Zauberstab schwingt, nebenher ein bisschen Glitter über uns ausschüttet und dann ist alles vorbei. Wir vergessen das Ganze jetzt mal schnell, haben uns alle wieder lieb und machen weiter wie vorher. Für mich ist so ziemlich nichts mehr, wie es einmal war. Und am allerwenigsten bin ich es. Ich schaffe es nicht, die Erlebnisse beiseite zu schieben, Schlagsahne darüber, Kuchen in den Ofen, ein Lächeln ins Gesicht. Einfach ausblenden, weitermachen, anknüpfen. War es ein Fehler immer authentisch zu sein? Ich denke nein. Daher, ich bin es auch in dieser Sache und ich werde noch eine Weile brauchen, den Graben in mir wieder zuzuschaufeln.

 

Sie steht immer noch vor mir, die Solidarität, mit erhobenem Zeigefinger in meiner Tür und sie brüllt mir aus meinem Telefonhörer entgegen und sie ist beleidigt, wenn am Nachbartisch, der 1,50 m entfernt steht, jemand sitzt, der atmet. Hinter der breitschultrigen Solidarität lugen verstohlen Südtirol oder andere Orte oder Unerreichbarkeiten aus der Bückwarenkiste hervor. Sie scheinen so ein bisschen verschämt, der Egoismus und der Eigennutz. Man trägt sie neuerdings nicht mehr ganz so offen zu Schau, eher dezent unten drunter. Das war letztes Jahr. Und es waren, da muss ich gerecht bleiben, bei Weitem nicht alle. Aber es waren zu viele. Vielleicht ist das ja wirklich vorüber – am 20. März. Leider beinhaltet das kein abruptes Vergessen.

 

Der Text, den ich auf meinem Schreibtisch liegen gelassen habe, ein Auszug daraus, ist mein Wegbegleiter. 

 

Woran ich also glaube? An ein Leben vor dem Tod. An Empathie, Aufmerksamkeit füreinander. Sagen & Fragen. Dass es immer und immer und immer wieder darum geht, sich einander mitzuteilen und den anderen verstehen zu wollen....

Ich glaube, dass sich ein Leben daran misst, wozu man Ja und wozu man Nein sagt.

(Meike Winnemuth, Der 27. Andere Advent 2021/22, Andere Zeiten e.V.)