Ein Platz am Fenster

Ich bin irritiert. Ich öffne die Tür des mit mir gemeinsam im Haus lebenden, älteren Mitbewohners. Er sitzt, so wie im Augenblick und aus gegebenem Anlass fast immer, im Sessel vor seinem Fenster. Von dort kann man den Garten, den Gartenweg und ­– ­bevor die Bäume dann endlich grün werden – auch unsere Straße von oben beobachten. Das ist mehr entspannend, als dass es spannend wäre. Der interessierte Vogelbeobachter hat hier sein helles Vergnügen. Menschen erscheinen hinter dem Dickicht unserer Grundstücksgrenze, draußen auf dem Trottoir, nur recht vereinzelt. Es laufen nur wenige am Gartenzaun vorüber und wenn ja, dann sind es eigentlich immer dieselben und das Ganze auch zumeist noch mit der Genauigkeit eines Uhrwerkes. Man muss sich fast ein wenig Sorgen machen, wenn der Eine oder der Andere um eine bestimmte Zeit nicht erscheint.

 

Auch die NABU-Vogelzählung im vergangenen Januar hat von diesem Beobachtungsplatz profitiert. Wir wissen jetzt wieder ein wenig besser darüber Bescheid, ob sich die Blaumeise vielleicht doch von Suttonella ornithocola, einem Bakterium, was ihr im letzten Jahr recht heftig zusetzte, erholen wird und ob ihre gefiederten Bestände auch weiterhin unsere Gärten beflügeln werden. Wir haben Amseln, Spechte und Zaunkönige gezählt und irgendwie hat es das hübsche Rotkehlchen geschafft, Vogel des Jahres 2021 zu werden.

 

Ein Platz am Fenster. Vögel zählen ist entspannend, fördert die Konzentration, vertreibt die Zeit des Ruheständlers an langen Wintertagen, sorgt dafür, etwas Nützliches getan zu haben, ist damit kurzum gut für Körper und Geist. Letzterer bleibt rege und was den Körper betrifft, handelt es sich beim Vögel-Zählen um eine solch entspannende Beschäftigung, dass ich ernsthaft darüber nachdenke, ob es diese auf Rezept oder Verordnung von der Krankenkasse geben sollte. Anstatt Betablocker zu verschreiben, zehnmal eine halbe Stunde Vögel-Zählen auf Verordnung. Das beugt einer Überkonzentration des Stresshormons Adrenalin vor. Es sei denn, man muss sich darüber aufregen, dass die Elster gerade mit den frisch geschlüpften Blaumeisenjungen im Schnabel am Fenster vorüberfliegt, während man vom Sessel aus nichts tun kann, außer in die Hände zu klatschen und laut zu brüllen, was die Elster wenig beeindrucken und das tote Junge nicht wieder lebendig machen wird. Die Population wird damit in ihrer Regeneration wieder um Jahre zurückgeworfen.

 

Derweil ich überlege, auf welchem Wege ich meine Erkenntnisse an den GKV-Spitzenverband (Bundesverband der Gesetzlichen Deutschen Krankenkassen) am besten übermittle und ob mich in Folge meiner sensationellen Entdeckung der Zorn der dann natürlich in den Aktienkursen steil abstürzenden Pharmaindustrie einholen wird, marschiert auf der Wiese hinter dem Haus, in allertiefster Seelenruhe, das Stockentenpaar vorüber, was unseren Gartenteich als selbstverständliche Heimstatt okkupiert hat. Dort frisst es den Froschlaich, so es in diesem Jahr überhaupt welchen gibt. Seit einiger Zeit sitzt unter dem einzigen Grasbüschel am Rande des Weihers ein einsames und stundenlang vergeblich rufendes Exemplar und quakt wohl umsonst darum, dass seine Liebesgunst erhört wird. Keiner antwortet. Das Echo aus der anderen Ecke ist seit ein paar Tagen erloschen. Ich vermute, dass der uns allmorgendlich aufsuchende Graureiher daran zumindest eine Teilschuld trägt. Entweder der Reiher hat ihn gefressen, der Frosch ist am Schock über den Anblick des Reihers verstorben oder er hat eiligst sein Bündel geschnürt und das Weite gesucht. Naja, das ist eben Natur.

 

Dem älteren Herrn bekommt das recht gut: Bewaffnet mit den entsprechenden Nachschlagewerken zu Natur in Form von Flora und Fauna, Unterklassifizierung hier im Besonderen – die Ornithologie – blättert er ganz klassisch von Seite zu Seite. Keine Popup-Fenster, die alle paar Sekunden aufploppen, um zu verkünden, was einen noch interessieren könnte oder in Dauerschleife die neuesten Erkenntnisse der Pandemie in Form von Zahlen als Banner präsentieren. Dies würde Herzfrequenz und Blutdruck nur wieder unnötigerweise erhöhen. Somit gehören also auch Bücher ins therapeutische Leistungsspektrum der Krankenkassen und sollten ebenso verordnet werden. Nebenher würde das auch den gebeutelten Buchläden zugutekommen und die Ergebnisse der nächsten drohenden Pisa-Studie, nach fast einem Jahr ausfallendem Unterricht, gleichsam und zumindest in Teilbereichen abmildern.

 

Wenn da nicht, aus etwa zwei Metern Entfernung, ein schwarzes, flaches Viereck hämisch aus der Ecke frohlocken würde. Das Gerät, was alles zunichte macht. Hat man ihm einmal Einlass in seine vier Wände gewährt, ist es – für alle Zeiten – aus und vorbei mit Ruhe und Entspannung. Seit etwas mehr als einem Jahr sitzt die vulnerable Personengruppe – in Selbstisolation – nun vor dem Gerät und informiert sich nahezu rund um die Uhr zu Inzidenzen und Abstandsregeln und erwägt, ob sie sich demnächst lieber mit AstraZeneca oder Biontech impfen lässt, resümiert über den Unterschied von Antikörper-Schnell- und Antigentests, derweil ihr die Ausgangssperre ziemlich egal ist, über die auch die Dritte Welle unbeeindruckt von alldem hinwegrollt, während das exponentielle Wachstum weiter steigt und wir auch zukünftig keinen Schimmer von der Dunkelziffer des Ganzen haben. Die Fallzahlen vom RKI werden mehrmals täglich vermeldet und man glaubt fast schon, dass Robert Koch irgendwie ein guter Bekannter wäre, mit dem man gestern erst den letzten gemeinsamen Kaffee getrunken und über das Leben philosophiert hat, so oft wie man jetzt von ihm hört.

 

Schalldämmend und damit doch auch irgendwie wieder schützend (man versteht zum Glück nicht mehr alles, was andere, noch freilaufende, Mitbürger durch diese hindurch nuscheln) wirkt hier nur eine FFP2-Maske, die bis vor einem Jahr nur eine Nebenrolle, in Form der kleinen Schwester des Schwingschleifers in der Hobbytischlerwerkstatt meines Bruders, darstellte und dort mehr Staubpartikel als Aerosole filterte. Inzwischen ärgert sich eine gute Freundin mit den Initialen FFP, warum sie sich diese nicht hat schützen lassen.

 

Draußen auf dem Bordstein zieht die Gruppen- und Herdenimmunität in Form einer kleinen Wandergruppe vorüber und Hamsterkäufe sind im Augenblick Geschichte, sie feiern ihren ersten Geburtstag mit Nudeln an Dosensuppe. Im Hotspot sitzt man im Homeoffice, wartet die Impfreaktionen ab und lässt nur noch die Kernfamilie herein. Indes rollen, trotz Notbremse und Reisewarnungen, die Mutationen übers Land, die Rolling-Review-Verfahren über die Zulassung von Impfstoffen laufen weiter und man überlegt, ob das nächste Weihnachten in einem Dreivierteljahr mit der ganzen Sippe möglich sein könnte oder ob man sich dann als Superspreading-Event im Lokalteil der regionalen Tageszeitung wiederfindet. Aber bei eingehender Betrachtung: Social distancing birgt durchaus auch Vorteile. Es liefert die endgültige Begründung eigener misanthropischer Verhaltensweisen, quasi im Beipackzettel, getarnt als Risiken- und Nebenwirkungen des Lebens.

 

Im Fenster am Affenbrotbaum meines Mitbewohners hängt seit ein paar Tagen wieder die Weihnachtsbeleuchtung, eine kleine funkelnde Lichterkette. Wir haben April und Ostern ist seit drei Wochen auch vorüber. Ich wundere mich laut: „Ist bei dir denn schon wieder Weihnachten?“ „Nein, ich gedenke den Opfern der Pandemie, ich gedenke den Corona-Toten.“ Darauf entgegne ich lieber gar nichts mehr, weil wir bei diesem Thema immer häufiger aneinandergeraten. Auch wenn ich per se nichts gegen diese Gedenkaktion einzuwenden habe, frage ich mich insgeheim, wer nun bitteschön auch der lebenden Opfer der Pandemie gedenkt?! Aufgrund des schwelenden Konfliktes behalte ich diese Gedanken besser für mich. Draußen am Fenster fliegt Juri Gagarin im Sputnik V vorüber. Er muss noch schnell seiner Testpflicht nachkommen, bevor er seine Weltraummission beenden und wieder auf die Erde zurückkehren darf. Vielleicht hat er ja irgendwo dort draußen Leben entdeckt, was nur halb so verrückt ist wie die Erdenbewohner. Ein schöner Gedanke, an dem ich mich festhalten werde, bis meine Freunde mich mit mitleidigen Blicken zur Quarantäne in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie einweisen lassen, als eine Folge von oder an oder mit …

 

 

Ach ja, gestern war Tag der Erde, teilte mir ein guter Freund, beim allabendlichen Review am Telefon, mehr beiläufig in unserem Gespräch mit. „Schön, das passt. Ich war heute auf dem Kompost.“ Er erkannte mir meinen Sinn für den Ernst der Lage mit dieser Spontan-Entgegnung ab. „Ich fange eben ganz unten, quasi an der Basis an. Erden kommt von Erde.“ Und das ist tatsächlich eines der wenigen Dinge in diesen Zeiten, die mich die Welt um mich herum – wenigstens zeitweise – vergessen lassen. Auf ein schönes Wochenende – ich hole dann mal den Spaten.