Thüringen ist, wenn man den Erbebenkatalog befragt, dahingehend eines der aktivsten Gebiete in Deutschland. Im Katalog genauer nachgeschlagen, sehe ich Ostthüringen in der Häufigkeit am ehesten davon betroffen. In dieser Woche, besser gesagt zu Wochenbeginn, wurde Weida von einem Erdbeben ganz anderer Art heimgesucht. Das Epizentrum hierfür lag so ziemlich genau unter dem Weidaer Rathaus.
Eine Betrachtung:
Vor etwas mehr als einem Jahr griff dieses – uns seitdem nicht mehr loslassen wollende – Ereignis namens Corona-Pandemie fast über Nacht nach unseren Leben. Wir wähnten es soweit weg. Und wir wähnten uns nicht weniger in Sicherheit, als wir es aus den Jahren und Jahrzehnten zuvor ganz selbstverständlich gewohnt waren.
Wir lebten unsere Selbstverständlichkeiten so fraglos, bis wir irgendwann mit dem Vergehen der Monate bemerkten, dass sie keine mehr waren.
Manchmal, unter Freunden, fragen wir uns, worüber wir früher sprachen, in diesem „Früher“, das noch gar nicht so lange zurück liegt, welches aber irgendwie keiner von uns im Augenblick mehr zu greifen bekommt. Im Rückblick betrachtet, ging es sehr selten um Existenzielles, viel mehr um uns heute fast schon überflüssig Erscheinendes. Das war damals normal, damals bis Mitte März des Jahres 2020. Heute, ein Jahr danach, ist vielleicht nicht alles, aber doch sehr vieles nicht mehr so, wie es war. Die Prioritäten in unserem Anspruchsdenken haben sich in extremer Art verschoben.
Und nicht selten klopft zwischenzeitlich der Gedanke an, ob es jemals wieder so werden wird, wie es einmal war.
Seit einigen Tagen stehen Schuhe und Plakate vor dem Haupteingang des Weidaer Rathauses. Kinderschuhe, bunt, in vielen Größen. Ich habe sie erst bemerkt, nachdem die Wellen auf allen Seiten bereits hoch schlugen. Mein Gefühl beim Betrachten war – zugegeben – ein diffuses. Die Bilder der heutigen Zeit mündeten in meinen Gedanken dabei in eine andere, die die meisten von uns zum Glück nicht erleben mussten. Ich weiß nicht, ob dieser Bogen nicht zu weit gespannt ist. Und ich habe mir nie zuvor im Leben so häufig die Frage danach gestellt, was richtig oder falsch ist oder es sein könnte, wie in den letzten Monaten. Nie hatte ich Zweifel in dieser Dimension. Die Schuhe stehen heutzutage für Ängste und tragen dabei doch eine tiefe Symbolik. Angst aber muss man ernst nehmen.
Irgendwann im April des Jahres Eins unserer neuen Zeitrechnung, die sich in ein „Davor“ und ein noch nicht in Aussicht stehendes „Danach“ aufteilt, kam mir der Gedanke, ein Zeichen zu setzen. Wir sammelten im Freundeskreis Emotionen. Worte positiv oder negativ besetzt. Jeder empfindet eine Situation anders. Jeder hat seine ganz eigene Art und Weise, mit etwas umzugehen. Und jeder glaubt für sich, seine Art, seine Betrachtungsweise sei die einzig richtige. Wie oft machen wir uns tatsächlich die Mühe, uns einmal in die Schuhe von anderen zu stellen?
Standortwechsel. Aus einer anderen Perspektive kann ich Dinge durchaus neu sehen. Der neue Ausgangspunkt gibt mir eine andere Sicht darauf frei. Was ich damit anfange, ob ich sie zulasse oder ob ich an meinen Ausgangspunkt zurückkehre, soll hierbei offenbleiben. Jeder entscheidet für sich.
Es entstanden im April 2020 zwei Wortwolken, die meine Tochter, die zum Glück nicht mehr in die Schule geht, „zusammenbaute“. Wortwolken kann man zu jedem beliebigen Thema entstehen lassen. Sie greifen ein Thema auf und vereinen Dinge, Worte, die man damit verbinden kann. Alles ist offen. Alles ist Ansichtssache. Die beiden entstandenen Banner hingen ein halbes Jahr an der Fassade des Weidaer Rathauses. Dunkle Farben standen dabei für negativ belegte Gefühle. Helle und lichte Farben für die positiven. Heute, nach einem Jahr frage ich mich: „Was ist uns davon geblieben?“
Und ich spüre, wenn ich meine Blicke schweifen lasse, dass die dunklen Worte über uns liegen. Sie sind es, die sich, entgegen meiner Hoffnung, derzeit zu tiefschwarzen Gewitterwortwolken über uns zusammenbrauen.
Angst – Stillstand – Schwermut – Triste – Uneinigkeit – Hilflosigkeit – Abhängigkeit – Egoismus – Distanz – Unsicherheit – Besorgnis – Panik – Einsamkeit – Überforderung – Existenzbedrohung – Einschränkung – Verlust.
Wie viel davon finden wir heute in uns wieder? Ein Jahr danach? Ein Rückblick. Eine Analyse des gegenwärtigen Zustandes unseres Selbst und unserer Gesellschaft, von der wir jeder ein kleiner Teil sind. Vor einem Jahr waren diese Worte für mich düstere Möglichkeiten, von denen ich mir wünschte, so wenig wie möglich tatsächlich erleben zu müssen. Heute sind sie Realität.
Wer von uns hätte geglaubt, dass das Selbstverständnis Kindergarten und Schule keines mehr ist? Wie viele schwarze Worte trägt heute jeder von uns in sich?
Und wie viele helle stehen auf der Gegenseite und schaffen es nicht mehr zu uns durchzudringen?
Vernunft – Besinnung – Zusammenhalt – Bereitschaft – Regeneration – Unterstützung – Zukunft – Solidarität.
Ohne Zweifel brauchen Kinder Bildung, Zuwendung und Freunde. Sie brauchen Regelmäßigkeiten und sie brauchen Dinge, die ihrem Alltag Strukturen verleihen.
Ich selbst habe im vergangenen Jahr die Erfahrung machen „dürfen“, wie es sich anfühlt, wenn der Alltag durch die Finger rinnt und der Tag seine vormals geregelten Strukturen verliert. Und ich bin erwachsen und ich kann es bestenfalls einordnen. Und ich kann etwas dagegen tun. Nicht zuletzt kann mir hierbei meine Lebenserfahrung ein Fundament geben.
All das haben Kinder nicht. Sie brauchen Verlässlichkeit und Vertrauen. Sie brauchen dieses Fundament, auf dem sie ihr Leben errichten können und das in der Lage ist, sie zu tragen.
Ich musste ein paar Tage darüber nachdenken, ob ich mich hierzu äußern möchte. Eine Meinung haben, ist das eine. Ich brauche Zeit, um einer Sache sozusagen hinterher zu denken und ich habe für mich die Erfahrung gemacht, dass mir das definitiv mit einem kühlen Kopf besser gelingt.
Nein, ich möchte nicht daran glauben, dass die Mehrheit der Menschen schlecht ist. Auch nicht in dieser Situation. Es gab immer Krisen, zu jeder Zeit suchten sie die Menschheit heim. Wir haben kein Grundrecht darauf, lebenslang von allem verschont zu bleiben. So schön, wie das auch wäre. Ich möchte dennoch bitte weiter daran glauben dürfen, dass es Überforderung und Hilflosigkeit sind, die uns derzeit, mit uns oft nicht verständlichen oder unangemessen erscheinenden Maßnahmen/Dingen/Aussagen…, häufig ratlos oder auch fassungslos zurücklassen.Dinge, mit denen wir für eine Dauer leben müssen, ohne dass sie tatsächlich dauerhaft werden. Und unter allem liegt die Angst als Grundton. Angst vor Stillstand, vor dem Verlust der Existenz, Angst vor der Zukunft. Nichts davon sollte man kleinreden. Vieles sollte man versuchen zu verstehen, auch wenn es schwerfällt.
Und ich möchte weiter an die Hoffnung glauben, ohne sie geht gar nichts im Leben.
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit,
dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ (Václav Havel)
Als wer ich hier schreibe? Als Stadträtin – als ganz kleines politisches Organ? Trage ich daher eine Schuld oder Verantwortung für diese Situation? Weil Politik eben Politik ist, egal wo sie stattfindet?
Als vom Lockdown Betroffene, deren Geschäft seit, in der Summe, neun Monaten stillsteht?
Oder schreibe ich vielleicht einfach nur als Mensch, der denkt, dass man etwas tun muss, weil Hass und Vorwürfe und Überforderung und Angst auch keine Lösung sind?
Und weil Zukunft helle Farben braucht?
Die Dinge haben immer viele Facetten. Die Menschen auch.