Sonntage
Heute vor einer Woche – auf den Tag genau, quasi am letzten Sonntag – waren ein guter Freund und ich nach einer langen Tour am Nachmittag bei Einbruch der Dunkelheit und nach etlichen Stunden, querfeldein und geradeaus, wieder in seiner Wohnung gelandet.
Wir hatten einen großen Teil der Residenzstadt umrundet, uns nasse Füße geholt, Kindern beim verordnungswidrigen Rodeln auf einem Hang – im Vorübergehen – zugesehen, ohne die Polizei zu alarmieren. Und wir hatten es ein wenig bedauert, nirgendwo einkehren zu können. Auf die kalten Füße ein heißer Kaffee war zumindest ein wärmender Gedanke, entgegen dem gerade Unmöglichen.
Wir wärmten uns daran, während die frühe Abenddämmerung bereits in pastellfarbenem Licht über uns hereinfiel. Die Stadt mit einem weiten Blick darauf lag zu unseren Füßen. Und ebendiese lenkten wir nun langsam wieder in Richtung ihrer leblosen Mitte.
Angekommen bei meinem Freund zu Hause, kochten wir uns eine Kanne Tee, ein Ritual jeden Sonntag, in den zurückliegenden Wochen. Ich angelte mir Nüsse aus einer Schale und schälte, wie schon den halben Winter immer wieder, mit Hingabe Orangen.
Wir saßen an den frühen Abenden noch für eine kleine Weile zusammen und schlossen den Tag in unseren Gedanken ab, um ihn kurz darauf auch schon der Vergangenheit zu überlassen, die ihn unweigerlich in ihren riesigen, schwarzen und alles verschlingenden Schlund hineinziehen würde.
Wenn wir später, irgendwann einmal, die Bilder betrachten, werden wir uns daran erinnern. Und in unserer Erinnerung wird es wohl der Winter der endlosen Tage, der noch um vieles endloseren Gespräche, der kilometerlangen Märsche durch verschneite Landschaften und der Nachmittage am Küchentisch sein, der dann wahrscheinlich virtuell ausgebreitet vor uns aufploppt.
Meist halte ich dabei ein Schälmesser in der Hand. Wahrscheinlich werden wir gemeinsam darüber lachen und den Kopf schütteln. Und wir werden uns gegenseitig Fragen stellen, zu dieser merkwürdigen Zeit, die dann wohl lange schon hinter uns zurückliegen wird. Es wird Antworten geben und vielleicht sind ja rückblickend dann sogar diejenigen dabei, nach denen wir heute vergeblich suchen.
Wir laufen jetzt häufiger an diesem siebenten Tag. Manchmal liegt in letzter Zeit sogar Schnee. Was im Dezember und Januar vielleicht nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches darstellen muss. Aber ehrlich gesagt, wie oft hatten wir das denn tatsächlich in den letzten Jahren?
Tanzende Flocken, eine geschlossene, wenn auch nur recht dünne Schneedecke, das Knirschen unter den Schuhen, was den Winter in seiner Stille für uns hörbar macht.
Wir spüren den Wintern von früher nach, einer Zeit, in der Schnee nicht zwangsläufig die Piste
in den verschneiten Alpen suggerierte. Die Bretter auf dem Autodach, Mautplakette, Zillertal oder Zermatt, Stau um München herum, Après Ski und Jagertee bis zum Umfallen.
Eine Mauer bedeutete zu dieser Zeit ein recht abruptes Ende. Und hinter dieser Mauer lebten losgelöst von uns unsere Träume und Sehnsüchte. Sie flogen leicht und unbemerkt hinüber, um sich noch bevor wir tatsächlich nachfolgen konnten, dort auszubreiten und festzusetzen.
Auf der späteren Suche nach ihnen waren manche bereits zu Staub zerfallen. Sie zerfielen, als wir sie einzufangen suchten, in unseren Händen. Die Realität begann darüber emporzuwachsen.
Schnee lag damals noch vor der Haustür und das gefühlt fast jedes Jahr aufs Neue. Wir stapften hindurch, fuhren Schlitten oder Gleitschuhe. Schlittschuhe hatte ich leider nie und hätte doch so gerne welche besessen. Wir hatten damals an den Samstagen noch Schule, meist bis gegen Mittag. Der Sonntag war frei und gehörte nur uns allein. Er verfing sich ab und an im Netz endloser Langeweile, die wir irgendwie, ob fehlender Aufgaben oder auch nur der Lust darauf sie zu erledigen, zutiefst genossen. Dann schlichen wir leise stöhnend und ein wenig wehleidig, wohl auf der Suche nach Beachtung, durch die Wohnzimmer unserer Eltern. Die Hinweise unserer Erzeuger auf mögliche Tätigkeiten blendeten wir recht konsequent und weiter quengelnd ziemlich gekonnt aus. Darum ging es uns wohl auch nur bedingt. Wir waren in vielem dem Selbstlauf überlassen und wir suchten und fanden unser Glück tatsächlich, in dem, was zu dieser Zeit möglich war, und irgendwie drehte sich trotzdem alles immer weiter.
Wir und die nachfolgende Generation, die später nicht selten zu Helikopter-Eltern werden sollten.
Im Winter verbrachten wir endlose Nachmittage auf den umliegenden Hügeln der Stadt, um irgendwann am Abend mit fast blau gefrorenen Gesichtern, dreckig und triefnass den Heimweg anzutreten. Und keiner scherte sich darum. Hauptsache wir kehrten mit Einbruch der Dunkelheit in die Wohnungen der Altvorderen zurück. Und hatten den Schlitten noch dabei, weil Ersatz zu dieser Zeit nicht in erster Hinsicht ein finanzielles Problem für die meisten war.
Die Mangelwirtschaft lehrte uns ganz nebenher auch den Wert von Dingen zu schätzen.
Wir lernten hierbei – spielerisch – den Umgang miteinander. Wir klärten Rangfolgen. Wir schlossen Freundschaften. Wir zerstritten und versöhnten uns. Wir liebten und hassten einander.
Wir teilten unseren Kummer und unsere Freude und manchmal mit sehr, sehr guten Freunden die Kaubonbons oder Schokolade aus den Westpaketen, die immer auch ein klein wenig nach Seife und Kaffee roch. Wir waren manches Mal neidisch aufeinander. Das Gefühl verschwand genauso schnell wieder, wie es gekommen war.
Ich denke, wir waren damals einfach glücklich in unserer kleinen Welt und zu Hause lag der Duft von warmem Apfelkuchen süß und schwer in den Zimmern.
Heute erkenne ich die Sonntage daran, dass eben jener Freund fragt: „Wollen wir morgen etwas zusammen machen?“ Es ist einer der beiden Tage, an denen seine Bürotür verschlossen bleibt. Und seit meine Café-Tür dies auch tut, gerade immer noch ausnahmslos an sieben Tagen in der Woche, gebe ich mich meiner freien und recht eigenwillig strukturierten Zeit hin, schnüre die Wanderschuhe und verlasse damit eine weitere Woche im Stillstand. Ich laufe aus ihr geradewegs hinaus.
Wir laufen gemeinsam einer anderen Zeit entgegen.
Und manchmal werde ich sie vielleicht sogar vermissen, diese langen, seltsamen Tage, die die Kleider verschiedender Jahre übereinander zu tragen scheinen, die sie für mich so vertraut und fremd und angsteinflößend und schön zugleich erscheinen lassen.