Pandemische Geometrie

 

Heute am Vormittag habe ich einen Text geschrieben, der genau diese Überschrift, unter anderem Namen zwar, aber inhaltlich zutreffend, bedienen sollte.

Am Ende des Vormittages, das sich mit dem Ende meiner niedergeschriebenen Gedanken ziemlich zeitgenau trifft, lese ich eben diesen Text noch einmal durch und stelle dabei für mich fest: Thema verfehlt. Ganz klassisch. So wie früher im Deutschunterricht. Interessante Betrachtung, aber inhaltlich, gemessen an der ursprünglichen Anforderung, eine glatte 5. In Worten: Fünf.

 

Ich entscheide mich, was im Gegenzuge zu früher möglich ist, da ich Auftraggeber (damals Lehrer) und Auftragnehmer (damals Schüler) ja irgendwie in einer Person darstelle und daher niemandem oder eben nur mir selbst rechenschaftspflichtig wäre, für eine andere Überschrift für den fertig gestellten, vormittäglichen, aber leider am Ziel vorbei gerauschten Text.

Im Anschluss beginne ich das Ganze von vorn. Ergebnisoffen, vermute ich dieses Mal dann schon im Vorfeld. Das ist die Krux oder auch das Schöne daran, wenn es einem vergönnt ist, seine Gedanken weitestgehend dem freien Lauf zu überlassen. Das ist ein bisschen so wie in Gesprächen mit guten Freunden oder auch anderen interessanten Gesprächspartnern, die einem das Leben hin und wieder vor die Füße oder eher vor den Mund fallen lässt. Man beginnt an einem Punkt und verliert sich unweigerlich in den unzähligen Querverbindungen.

Bis an irgendeiner Stelle einem der Gesprächspartner der Faden vollkommen verloren geht, man sich gemeinsam mühsam zurückhangelnd danach auf die Suche begibt oder auch die gerade vorhandene Zeit für das parallele Vorpreschen in die unterschiedlichsten Themen einfach zu begrenzt ist.

 

Da es mir soeben erneut und auch ohne die Anwesenheit eines möglichen Gesprächspartners geschieht – und bevor ich beim weiteren Herunterscrollen des Textes wieder die Überschrift aus den Augen verliere – versuche ich mich an dieser Stelle frühzeitig selbst einzufangen und auf die Ausgangsposition zurückzuholen.

 

Fast ein Jahr ist es her, dass ich geplant-spontan (Mitwisser wissen, was das zu bedeuten hat) meinen letzten Ostsee-Urlaub im Winter im Auge hatte. Ein alljährlicher Eiertanz, bei dem entweder mein Geschäft oder ein anderes Mal die Tage an der See als Gewinner hervorgingen. Ein permanentes Abwägen, ob es geht oder eben auch nicht, gingen dieser Fahrt, wohl zur hellen Freude aller mittel- oder unmittelbar Beteiligten, dabei jedes Jahr aufs Neue voraus.

Da der Winter unsere beste Saison im Café, aber im Gegenzuge ebenso meine liebste Zeit am Meer bedeutet, machte mir dieser Umstand die Entscheidung zu keinem Zeitpunkt unbedingt leichter. Ich entwickelte hierin eine nahezu meisterhafte Unentschlossenheit.

Zu dieser gesellte sich dann im Vorjahr eine weitere, bis dato, Unbekannte.

Endlich eine Entscheidung getroffen, pfiff ein Nordatlantiktief in Form des Orkans mit dem schönen Namen Sabine mit einer Spitzengeschwindigkeit von über 200 Stundenkilometern im vergangenen Februar ganz munter über Mittel- und Westeuropa hinweg.

Dies geschah, wie sollte es anders sein, unmittelbar an dem Wochenende, in dessen Anschluss ich in den Norden des Landes starten wollte.

Die Überlegung, dass ich bei Rückenwind vielleicht, mit meinem ansonsten eher behäbig daherkommendem Kraftfahrzeug, in nur der Hälfte der Zeit die Küste erreichen könnte, ließ mich in meinen stillen Groll hinein, zumindest bei der Vorstellung, ein klein wenig Erheiterung verspüren. Ansonsten hatte ich Deutschlands Wetterkarte für vierundzwanzig Stunden unter so etwas wie Dauerblick und sah dabei rot. Innerlich und auf der Wetterkarte.

Dass wir im darauffolgenden Jahr zeitweise eine nahezu durchgängig rote (Deutschland-)Karte haben würden, ahnte zu diesem Zeitpunkt weder ich noch höchstwahrscheinlich irgendein anderer der etwas über 83 Millionen zählenden Einwohner der Bundesrepublik. Und dass dieser Grund nicht Sabine oder Victoria heißen würde, das Rot für etwas anderes stünde und nicht in ein paar wenigen Tagen, fraglos einen immensen Flurschaden hinterlassend und Opfer fordernd, über uns hinwegfegen, aber irgendwie wieder einen weiblichen Vornamen tragen sollte, war auch nicht im Ansatz am fernen Horizont zwischen den Jahren sichtbar. Das Szenarium, das uns, dieses Mal eher schleichend, eine Katastrophe weitaus größeren Ausmaßes bescheren sollte, hätten wir wohl abwinkend und begleitet von der leider offen zur Schau gestellten Arroganz einer Wohlstandsgesellschaft, die ihre Rechte im Ursprung der Kosmogonie fest verankert glaubte, in einem Science-Fiction-Film verortet.

 

Ich bin gefahren, im vergangenen Februar, an einem Montagmorgen, an dem die Karte nur noch vereinzelte rote Pünktchen trug. Ich habe das Risiko, das ich für mich dabei eingehen würde,  erwogen. Als ich losfuhr, war es nahezu windstill auf der Autobahn und ich war, Gott sei Dank, unterwegs ans Meer. Fünfhundert Kilometer stellten nach dem Abzug des Sturms keine Hürde und keine Entfernung dar. Eine sicht- und spürbare Naturgewalt hatte diesen Prozess des Abwägens in Gang gesetzt. Und Sturm ist etwas, was man (be-)greifen kann. Der Schaden ist sofort, unmittelbar und in der Gegenwart sichtbar.

 

Wenn etwas über uns fällt, was wir nicht sehen und noch weniger zu fassen bekommen, wird es ungleich schwieriger. Meist glaubt man nur an das, was man auch sieht. Das ist so eine Sache mit dem Glaube und irgendwie glaubt man ja auch noch besonders gern und fest an das, was man sich wünscht.

 

Und so erwäge ich heute – wenn nicht der Meteorologische Wetterdienst vor einem drohenden Unwetter warnt, sondern die Bundesregierung vor einem unsichtbaren Virus – nicht, ob ich die fünfhundert Kilometer vielleicht auf weniger stürmische Zeiten verschiebe, sondern ob ich mich tatsächlich mehr als fünfzehn Kilometer von meiner Haustür entfernen darf. So richtig verboten ist das hier in Thüringen derzeit ja nicht und eine Empfehlung lässt mir zumindest den Spielraum, zu überlegen, ob ich mich, ohne Gesetze zu übertreten, mit einem Freund treffen kann, der zwanzig Kilometer entfernt wohnt, also wenn es eine verbindliche Verordnung wäre, fünf Kilometer zu weit. Dann müssten wir uns in der Mitte treffen und hätten dabei jeweils noch fünf Kilometer Guthaben. Wir wären zwei Haushalte im öffentlichen Raum, irgendwie in der Mitte (der Gesellschaft), mit Abstand und Vorratskilometern immer noch im Bereich der pandemisch-geometrischen Grauzone. Das Ergebnis wäre, auf den Punkt gebracht, irgendwie zum Ende immer das Gleiche.

 

Nein, natürlich fahren wir in kein überfülltes Skigebiet. Das haben wir irgendwie verstanden.

Und darum geht es letzten Endes ja wohl auch: nachdenken, abwägen, entscheiden, handeln und möglichst unter Beachtung dieser Reihenfolge.

Eines der möglichen Schlüsselworte heißt ja irgendwie auch Verantwortung.

Und bis ich den „Rest“ vielleicht herausgefunden habe, bleibe ich wohl besser in der Nähe meiner Haustür.