Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.
Ludwig Wittgenstein
Eigentlich rede ich gern. Ich rede viel zu gern, falls es hierbei ein „viel zu“ gibt.
Sprechen habe ich, genau genommen, erst mit zwanzig Jahren gelernt.
Die Jahre zuvor hüllten sich (nachdem ich dank meiner Eltern die Theorie beherrschte)
zumeist in Schweigen (Kindergarten und Schule). Hier rutschte ich nahezu unbemerkt hindurch
und ich wundere mich heute noch manchmal, dass sich Lehrer nach all den Jahren tatsächlich an mich erinnern konnten. Das aufgestaute Defizit nicht eingesetzter Worte entlud sich dann spätestens ab den Jahren der Pubertät – häufiger auch weniger stilvoll - daheim auf meinen Erzeugern.
Irgendwie ergibt das im Rückblick ein Minus (Schule) und ein Plus (zu Hause) und am Ende so etwas wie eine schwarze Wort-Null.
Reden – frei heraus und zu Zeiten ohne Punkt und Komma – lernte ich dann tatsächlich erst in den Nachwendejahren.
Dreizehn Jahre in meinem Job als Angestellte im Außendienst und die stetig wechselnden Charaktere mir gegenüber waren rückblickend meine Lehrmeister.
Seit über siebzehn Jahren nun verkaufe ich in meinem Geschäft Leibspeisen, bestäubt mit Kakao & Puderzucker, mit Sehnsucht und Trost, manchmal mit Schokolade, nicht selten all das angerichtet auf Worten.
Die Sprache als Beiwerk ist an vielen Tagen mehr wert und flirrt dabei in unglaublicher Leichtigkeit durch Raum und Zeit. Sie schafft es, den Moment mit einem Lächeln zu überziehen und dabei das Tortenstück auf dem Teller, den süßschweren Espresso vielleicht sogar ein wenig belanglos zu machen. Sie knüpft leise Fäden aus Zusammengehörigkeit.
Worte als Elixier darüber geworfen, lassen manchmal fließend ineinander verschwimmen, worum es tatsächlich geht: Lieblingskuchen oder Seelenfutter?!
KALTGESTELLT.
Man kann heute fast alles in einer digitalen, anonymen Welt bestellen, kaufen, erledigen.
Man muss dazu das Haus nicht mehr verlassen.
Die Telefonhotlines großer Unternehmen werden nicht selten computergesteuert… „Wenn sie Problem XY haben, dann wählen sie die 1…“ Nicht mal dann…eine menschliche Stimme…
Wir müssen mit niemandem mehr reden.
Wir wollen mit niemandem mehr reden.
Wir können mit niemandem mehr reden.
Wir verlernen es. Wir schweigen. Wir vereinsamen. Wir halten das alles für normal.
Dieses Problem ist nicht begründet in dem, was gerade und seit fast einem Jahr über uns liegt.
Die damit einhergehende zwischenmenschliche Verwahrlosung, die Unfähigkeit im Umgang miteinander wächst schon ein Stück länger an unserer Seite heran.
Sie wird durch all das, was gerade geschieht, im Höchstfalle beschleunigt.
Wir beherrschen vielleicht noch die Theorie dessen, was möglich wäre, und verlernen ganz nebenbei die Praxis.
Kaltgestellt bedeutet in meiner Wahrnehmung für viele der Betroffenen das Betreten einer Parallelwelt, die mit dem, was ihren früheren Alltag ausmachte, nicht mehr viel gemein hat.
Kaltgestellt bedeutet den Verlust im Zwischenmenschlichen, ganz unabhängig von Geber- und
Nehmerseite.
Kaltgestellt bedeutet weiterhin Rückzug, Sprachlosigkeit, das Engerwerden persönlicher Grenzen, die Gefahr selbst dann, wenn sie sich öffnen, einfach stehen zu bleiben.
Was richtet all das an, mal ganz abgesehen vom finanziellen Aspekt?
Ich kann diese Fragen nicht allumfassend beantworten. Ich kann sie nur an mich selbst richten und immer wieder nach Antworten darauf suchen. Antworten, die heute so und morgen anders ausfallen können. Und ich kann jeden Tag neu versuchen, meiner gerade physisch enger werdenden Welt mit einem hoffentlich weiter werdenden Horizont zu begegnen.
Und genau an dieser Stelle schließt sich der Kreis.