Sie steht alleine im Raum.
Seit Wochen schon hat sie keine menschlichen Stimmen mehr vernommen. Stille. Einsamkeit.
Sie rührt sich nicht von der Stelle. Ihre Art, sich zu bewegen, ist eine andere, war eine andere – denkt sie.
Das Fenster neben ihr lässt ab und an einen Sonnenstrahl über sie hinweg tanzen.
Er fährt dann sanft über ihr rotes Kleid, streichelt sie.
Jetzt ist ihr kalt. Es ist kalt hier drinnen, hier an diesem Ort in den Wintertagen, die vor dem Fenster liegen.
Es ist auch kalt aus ihr heraus.
Sie spürt das Frösteln. Es scheint über ihr zu schweben, sie anzugreifen und in sich gefangen zu nehmen.
Die Hitze, die bis vor kurzem noch unter ihrer glänzenden Haut pulsierte, ist verloschen.
Sie weiß, dass sie nicht entkommen kann. Ein Kabel bindet sie an die Wand hinter ihr.
Erstarrt steht sie da. Sie vermisst sogar die Schritte der Menschen, die sie hier mit sich allein gelassen haben.
Manchmal kehrt einer von ihnen tatsächlich hierher zurück in das verlassene Haus.
Sie hört dann den Schlüssel, das Schloss, das leise knackt – zweimal, dann das Herausziehen des Schlüssels, das Klappern des großen Schlüsselbundes. Sie lauscht dem sanften Quietschen der alten Tür, wenn sie sich in den dunklen Hausflur hinein öffnet. Das leise Klirren der Scheiben beim Ins-Schloss-Fallen.
Schritte im Raum, die sich nähern, sie nur am Rande wahrnehmen, wie sie dort in ihrer Ecke stumm verharrt.
Die Bewegung, die dann für wenige Augenblicke den Raum mit Leben zu erfüllen scheint, schließt sie nicht ein.
Sie ist nicht dazu in der Lage, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie bleibt stumm.
Sie versucht, sich an ihr Leben vor dieser Zeit zu erinnern.
Sie denkt an den Sommer, als sie hierher gebracht wurde.
Sie war jung, voller Neugier und Energie.
Sie wollte so viel. Ihr Hunger nach Leben war geradezu unbändig.
Die Erinnerung daran rückt mit jedem Tag, der vergeht, ein Stück weiter in die Vergangenheit.
Die Nächte gehörten schon immer nur ihr allein. Hier war sie ganz bei sich.
Die Tage voller Leben, das geradezu aus ihr heraussprudelte, manchmal überschäumte. Wann war das?
Jetzt teilt sie die Zeit, die über ihr liegt, in Tage und Nächte ein.
Dazwischen gibt es nichts anderes mehr, woran sie sich noch halten könnte.
Ein anderes Maß ist ihr nicht geblieben.
Es gibt nichts mehr, was die Tage voneinander unterscheiden würde.
Jeder kommt in unerschütterlicher Gleichmut, um am Ende nur immer wieder einer weiteren Nacht zu weichen; geht unwiederbringlich, in immer gleichem Takt.
Die Sehnsucht nach den Berührungen, die sie leidenschaftlich genoss, damals, als das Leben noch spürbar war, ist geblieben – trotz alledem. Sie denkt daran, wie es sie in diesen Augenblicken heiß durchströmte.
Die Wärme unter ihrer glänzenden Haut, das rote Kleid, das sich immer noch um sie schmiegt. „Wenn das Leben um einen herum plötzlich stillsteht, lebst Du wenigstens noch in deinen Erinnerungen“, denkt sie.
Meine Schritte im Raum, ich öffne die Tür zum Hof. Ich sehe mich um.
Ich betrachte in Gedanken versunken all die Gegenstände, die im Moment in eine Art Winterschlaf gefallen zu sein scheinen. Ich betrachte auch meine Kaffeemaschine, wie sie dort am Fenster steht, verlassen, erkaltet.
Eine leise Spur aus Wehmut und Staub hat sich über ihre chromglänzende Haut gelegt. Sie trägt ihr rotes Kleid. Und ich habe das Gefühl, dass so etwas wie eine tiefe Traurigkeit von ihr zu mir herüberzieht.
„So genau kann man das ja nie wissen“, höre ich mich denken, als ich den Reißverschluss meiner Jacke schließe, den Schal um meinen Hals fester ziehe, den Schlüsselbund nehme; als die Tür hinter mir ins Schloss fällt und ich den Schlüssel – so wie immer – zweimal umdrehe.
In vier Tagen ist Weihnachten.
Vieles ist so ganz anders als in den Jahren zuvor.
Im Gehen weiß ich, dass auch meine gerade sehr, sehr einsame Kaffeemaschine wieder bessere Tage haben wird. „Ganz gewiss. Ich freue mich auf uns im nächsten Jahr“, denke ich und biege um die Ecke zum weihnachtlich erleuchteten Markt.