Apfelsinen

 

Es ist Vorweihnachtszeit. "Alle Jahre wieder", denke ich.

Ich betrachte meine große, tiefblaue Schüssel übervoll mit Früchten.

Sie steht auf der Kornkiste im kühlen Treppenhaus.

Mango, Bananen, Äpfel, Feigen, Mandarinen – Lieblingsmandarinen sogar.

Die Verheißung, aufgedruckt auf der Verpackung zu lesen.

Die Früchte liegen dicht gedrängt.

Ein riesiger Granatapfel und ein paar Orangen vom türkischen Gemüsehändler haben sich noch dazu gesellt.

Ich konnte nicht widerstehen. Nach Granatäpfeln entwickele ich neuerdings in jedem Winter so etwas wie eine Sucht. Orangen erzählen Geschichten aus der Erinnerung.

 

Für mich bedeutet die Adventszeit wahrscheinlich mehr Traditionelles, als ich mir selbst eingestehen möchte.

Orangen, die in der Kindheit irgendwie noch Apfelsinen hießen und kaum zu haben waren.

Manchmal stand ich mit meinem Großvater in den Tagen kurz vor Weihnachten beim Gemüsehändler unserer kleinen Stadt. Das Geschäft befand sich in einer etwas größeren Straße, gleich in der Nähe des Marktes, der damals noch voll war von Geschäften jeglicher Art.

Auch aus den Läden in anderen Straßen schimmerte Licht herüber. Läden, die heut längst verwaist sind. Sie waren mit mehr oder weniger brauchbaren Dingen der sozialistischen Realität, mehr oder häufig weniger, gefüllt. Manches davon kaufte man, anderes brauchte man nie, vieles ließ man einfach liegen und hoffe auf ein Paket aus dem fernen Westen.

 

Vor Festtagen bildete sich vor dem Geschäft Jahr um Jahr eine Meter lange Menschenschlange.

Hinter den schmuddeligen, mit Kondenswasser angelaufenen Fensterscheiben lagen Rot- und Weißkraut und wohl noch ein paar andere Köstlichkeiten, die sich meiner Erinnerung, mit dem Vergehen der Jahre, entzogen haben. Meist lagen in einer Kiste  recht zuverlässig  auch noch Orangen aus dem sozialistischen Kuba.

Diese wollte aber keiner kaufen.

Sie fristeten – weit gereist  ihr elendiges Dasein in der Auslage.

Selbst als Dekoration schienen sie irgendwie ungeeignet.

Kubastroh war die landläufige Bezeichnung für diese – wahrscheinlich nur frisch gepresst genießbaren – Früchte aus dem Reich Fidel Castros. Komischerweise haben wir das Auspressen nie probiert, obwohl es auch keinen Orangensaft in Flaschen gab. 

 

Über der Stadt lag in jedem Winter eine Dunstglocke aus Kohlefeuerung und Dreck.

Die Asche der Kachelöfen hingegen lag als Streugut auf den damals noch schneebedeckten

und vereisten Fußwegen. Keiner störte sich daran.

Man nahm die alltäglichen Dinge wohl mit Gelassenheit, weil einem einfach nichts anderes übrig blieb.

 

Der stark beleibte Inhaber des Geschäftes trägt in meiner Erinnerung einen blauen Kittel aus Baumwolle oder Dederon. Das weiß ich allerdings nicht mehr ganz genau.

Er war zugleich der Hüter der Schätze hinter seinem Ladentisch.

Der Ladentisch stellte das Heiligtum, am Ende von Gurkenfässern und den Weg säumenden, leeren Obst- und Gemüsekisten, dar. Dort hofften wir nach langem, geduldigem Warten, einen kleinen Teil dieser Kostbarkeiten abzubekommen. Manchmal warteten die Menschen auch ohne zu wissen, was es gerade geben würde.

Sie reihten sich einfach ein. Eine Schlange signalisierte unausgesprochen eine Rarität.

Das erschloss sich dann erst mit jedem Meter des Näherherankommens. Wie bei dem Spiel „Stille Post“ wurde weiter geflüstert, was höchstwahrscheinlich die zu erwartende Beute wäre.

In der Vorweihnachtszeit waren diese Schätze Apfelsinen aus den Ländern unserer Sehnsüchte.

Mit großmütiger Geste verteilte der Mann Kilo für Kilo, verpackt in spitze Papiertüten.

Die Menschen warteten damals klaglos. Kaum jemand, der es anders gekannt hätte.

Während Schnee und Kälte sie tiefer in die Kragen ihrer Jacken und Mäntel tauchen ließ, vergrößerte sich die Vorfreude mit jedem Schritt, den sie der Tür zum Laden näher kamen.

Die freudige Erwartung wärmte sie von innen.

 

Ich weiß nicht mehr, ob wir den Laden jemals ohne Papiertüte und mit enttäuschten Gesichtern verlassen haben. Ich denke, ich würde mich daran erinnern, wenn es so gewesen wäre.

Aber ich weiß noch, dass Glück in dieser Zeit einfacher war.

Es waren nicht die großen Dinge, auf die wir warteten, hofften, nach denen wir uns sehnten.

Vielleicht sehnten wir uns ja auch danach. Aber da vieles einfach nicht möglich war, gaben wir uns mit viel weniger zufrieden.

 

Das Glück roch nach Westschokolade, Seife, Wintergewürzen beim Plätzchenbacken. Es roch nach Bittermandel und Zimt. Und manchmal roch es nach Apfelsinen.